Die Lebensgeschichte eines wahren Israeli: Über die Militarisierung der Jugend in Israel

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„Ein wahrer Israeli drückt sich nicht vor der Einberufung“[1] – dieses Motto steht im Mittepunkt einer großangelegten Werbekampagne in Israel. Die Kampagne wird nicht vom israelischen Militär betrieben und zielt nicht darauf mit Soldat_innen den Schwund bei den israelischen Streitkräfte (IDF) zu stoppen. Israel hat – zumindest de jure – eine allgemeine Wehrpflicht sowohl für Männer als auch für Frauen. Das Motto ist dennoch Ausdruck und Verstärkung der israelischen Auffassung über die Rolle des Militärdiensts im Leben eines Israeli – eines „wahren“ Israeli.

Ein „wahrer Israeli“ erinnert sich nicht daran, aber als seine Mutter beim Arzt so viele Jahre zuvor erfuhr, „es ist ein Junge“, hielt sie kurz inne und dachte daran, dass sie in 18 Jahren eine dieser Mütter sein wird, die nachts nicht schlafen können aus Sorge um den Sohn las Soldaten. Ein „wahrer Israeli“ erinnert sich auch nicht daran, wie seine Mutter erleichtert aufseufzte, als seine kleine Schwester geboren wurde, in dem Wissen, dass sie zwar auch Soldatin sein wird, aber jedenfalls nicht an Kampfeinsätzen teilnehmen wird.[2]

Ein „wahrer Israeli“ erinnert sich vielleicht an den echten Panzer, auf dem er gespielt hat, oder die Kanone auf dem Spielplatz in der Nachbarschaft. Er erinnert sich vielleicht auch an die Päckchen mit Süßigkeiten, die er im Kindergarten liebevoll gepackt hat, und die Grußkarte an die Soldaten an der Front, die er geschrieben und mitgeschickt hat. Seine Erzieher_innen im Kindergarten erklärten ihm die Bedeutsamkeit der Unterstützung der Soldat_innen, denn eines Tages würde er selbst einer werden. Ein „wahrer Israeli“ erinnert sich sicher daran, wie ein Soldat im Bus neben ihm einschlief mit dem Gewehr zwischen ihnen beiden und an das Gefühl des kalten Metalls am Bein jedes Mal, wenn der Bus bremste.

Der „wahre Israeli“ stand auf der Bühne bei der Feier des Gedenktages in der fünften Klasse und las einen wohl-geübten Text: „Möge das Volk Israels unserer Söhne und Töchter gedenken, den loyalen und tapferen Soldat_innen der IDF... mögen diese glorreichen Verluste der Kämpfe Israels in den Herzen der Israelis sein für die kommenden Generationen“.[3] Und dann hat er eine Träne vergossen, vielleicht weil er wusste, es wurde erwartet, vielleicht weil er sich der Geschichten der Soldat_innen erinnerte, die in der Schlacht starben, und vielleicht weil er Angst hatte, eines Tages könnte er das sein.

Dem „wahren Israeli“ wurde Hebräisch, Geschichte oder vielleicht Literatur von einem Soldaten in Uniform [4] unterrichtet und im Alter von 16 erhielt er seinen ersten Einberufungsbefehl von den IDF und begann verpflichtende Einstufungstests zu durchlaufen. Soldaten in Uniform gingen aus und ein in seinem Klassenzimmers und erklärten ihm, warum er ihrer Einheit beitreten sollte, warum es sowohl das Wichtigste ist, was er für sein Land tun kann, als auch das Wichtigste, was er tun kann, um seine künftige Karriere zu. Der „wahre Israeli“ weiß, dass diese Tests, die Kurse, die Ränge und die Verbindungen, die er während des Militärdienst erhält, ihm später in seinem zivilen Leben alle Türen öffnen werden.[5]

Der „wahre Israeli“ weiß, wie stolz er seine Eltern macht, wenn er in die Elite-Kampfeinheit kommt, der er immer beitreten wollte (obwohl seine Mutter heimlich entsetzt sein wird) oder sich als würdig erweist für den Militärgeheimdienst oder sogar als Künstler, Tänzer oder Musiker vom Militär anerkannt wird und ihm Zeit zugestanden wird, um während seiner Wehrpflicht weiterhin seine Kunst einzuüben.

Der „wahre Israeli“ wird nicht innehalten und sich fragen, ob es das ist, was er will. Er wird nicht den Militärdienst in Frage stellen, da es ein natürlicher Schritt im Leben ist, noch wird er dessen Bedeutung für das Wohl seines Landes in Frage stellen. Der „wahre Israeli“ hat nie die Entscheidung getroffen, in der Armee zu dienen, er hat sich einfach nicht dagegen entschieden. Und wenn aus irgendeinem Grund, einem Fehler in seiner Erziehung, mit seinen Eltern, mit seiner Umgebung, er die Wahl trifft, nicht zur Armee zu gehen, gibt es immer diejenigen, die ihn daran erinnern, dass „ein wahrer Israeli sich nicht vor der Einberufung drückt“.

Sahar M. Vardi
Diana Dolev
Ruti Kantor
Sergeiy Sandler

Anmerkungen

[1] In Hebräisch ist das Motto im Maskulinum formuliert, der wahre Israeli ist darum vermutlich männlich.
[2] In Israel gilt die Wehrpflicht für Männer (3 Jahre) und Frauen (2 Jahre). Gesunde Männer werden automatisch Kampfeinheiten zugeteilt, während Frauen nur mit ihrem Einverständnis in solche Einheiten entsand werden. Was nicht bedeuten soll, Frauen seien sicher im israelischen Militär, besonders nicht wegen der hohen Zahlen sexueller Übergriffe gegenüber weiblichen Soldat_innen von seiten männlicher Soldat_innen oder Offiziere. Der Großteil der Männer, die umkommen, sterben ebenfalls nicht in Kampfhandlungen, sondern durch Selbstmord oder Autounfall während eines Urlaubs.
[3] Ursprünglich ein jüdisches Gedenkgebet, das in ein Gebet zum Gedenken an israelischen Soldaten und Opfer von Feindseligkeiten umgewandelt wurde. Diese Version wurde von der offiziellen Website des israelischen Ministeriums für Bildung übernommen. In vielen religiösen Kreisen wird stattdessen die Einleitung „Möge Gott seiner Söhne und Töchter gedenken“ verwendet.
[4] Eine Einheit der Armee entsendet Wehrpflichtige (fast ausschließlich Frauen), um in Schulen zu unterrichten, vor allem in ärmeren Gemeinden.
[5] Angenommen natürlich, dass er als ein „wahrer Israeli“ aus eine privilegierten Familie stammt. Die Vorteile des Dienstes im Militär für die weniger Privilegierten sind viel geringer (wogegen das Risiko ihrer Diskriminierung viel größer sein kann, wenn sie nicht dienen.

http://wri-irg.org/de/node/15338

 

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